Verlust der Diskussionskultur?
Wenig Toleranz bei MeinungsverschiedenheitenDie Hälfte der Bevölkerung vermisst in Österreich einen toleranten Umgang mit Meinungsverschiedenheiten. Zuwanderung ist in privaten Gesprächen das größte politische Tabuthema.
Für 93 % der Bevölkerung ist laut einer Studie des Österreichischen Gallup-Instituts in Kooperation mit dem Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Alpen Adria Universität Klagenfurt* die Akzeptanz „anderer Meinungen“ sehr (54 %) oder eher wichtig (39 %).
Nur 46 % sind der Auffassung, dass dieser gesellschaftliche Wert in Österreich auch gelebt wird (9 % „ja, auf jeden Fall“, 37 % „eher ja“). 50 % sehen kein verständnisvolles Verhalten bei Meinungsverschiedenheiten, 4 % äußern sich nicht dazu.
Einen Mangel an Toleranz nehmen insbesondere Frauen, Personen über 50 Jahre und die Anhänger:innen der FPÖ wahr: Jeweils 54 % der Befragten in diesen Bevölkerungsgruppen geben an, dass die Akzeptanz für andere Meinungen in Österreich eher oder überhaupt nicht vorhanden ist.
Selbstzensur bei heiklen Themen
Etwa drei Viertel der Bevölkerung (76 %) sind der Ansicht, dass man über bestimmte politische Themen im privaten Kreis lieber nicht diskutieren sollte. Weniger als ein Viertel der Befragten (24 %) glaubt, man könne im persönlichen Umfeld offen und ehrlich seine Meinung kundtun.
Ganz oben auf der Liste der heiklen Gesprächsthemen steht die Ein- und Zuwanderung − 47 % der Bevölkerung raten hier zu Zurückhaltung, „um sich nicht den Mund zu verbrennen“. An zweiter Stelle folgen Politik im Allgemeinen sowie das aktuell angespannte Verhältnis zwischen Islam und Judentum mit jeweils 32 %.
Weitere Punkte, die in Privatgesprächen teilweise gemieden werden, sind Diversität (29 %), Gendern (27 %), Klimabewegung und Umweltschutz (25 %) sowie Krieg in Europa (24 %). Bei Diskussionen über Vaterlandsliebe (19 %) oder Gleichberechtigung für Frauen (14 %) ist aus Sicht der Befragten am wenigsten Vorsicht geboten.
Personen über 50 Jahre äußern sich zu kontroversen Themen generell offener als Jüngere. Unter 30-Jährige lassen vor allem in Gesprächen über Zuwanderung (47 %), Diversität (44 %), Politik (40 %) und Gendern (33 %) Vorsicht walten.
„Komplexe gesellschaftliche Themen bergen Konfliktpotenzial und werden deshalb in persönlichen Gesprächen oft gemieden. Zudem beeinflussen öffentliche Debatten das Private. Je radikaler der politische Diskurs, desto unangenehmer wird es, über manche Themen zu sprechen“, fasst die Leiterin des Österreichischen Gallup-Instituts, Andrea Fronaschütz, die Ergebnisse der Umfrage zusammen.
* 1.000 Personen repräsentativ für die (webaktive) österreichische Bevölkerung ab 16 Jahren, Methode: Computer Assisted Web Interviewing (CAWI) im Gallup-Onlinepanel, durchgeführt zwischen 23. und 29. Mai 2024